Forensic Sexualities. Einige Gedanken zur Scham


Forschungsfrage: Inwiefern ist Sexualität nicht einfach ein Mittel zur Lustgewinnung oder Luststeigerung, sondern ein Katalysator, ein Medium, mit dem etwas bearbeitet wird, was in unseren Körpern drinsteckt?

Auf die Frage komme ich nach einem Gespräch mit Freund*innen über Scham. Im Raum steht, dass Scham etwas Schlechtes sei und weg muss, damit wir endlich befreit sein können. Obwohl ich das nicht ganz unrichtig finde, wehrt sich etwas in mir. Es erscheint mir zu einfach dahingestellt — und wenn es so einfach wäre, warum sind wir die Scham dann nicht schon längst losgeworden? Es wehrt sich auch, weil ich Angst vor der Kurzschlussreaktion habe, dass man die Scham einfach verdrängt und so tut, als würde man sich nicht schämen. Und bekanntlich kommt alles Verdrängte irgendwann wieder, findet seine Ritzen und Nischen um wieder an die Oberfläche zu kriechen. Es lässt sich nicht einfach wegschieben, muss bearbeitet werden. Obendrauf habe ich die Befürchtung, dass man anfängt sich für das Schämen zu schämen oder es zu Scham-shaming kommt. Nicht zuletzt findet sich ein Haufen an Exemplaren sehr unangenehmer Zeitgenoss*innen, die sich schamlos benehmen und von denen man sich Wünschen würde, dass ihr Über-Ich stärker wäre… Zuletzt fällt mir dann noch das rein ästhetische Argument ein: Scham hat viele schöne Seiten. Diese geröteten Wangen  Und man kann mit ihr so gut spielen…! Wie intim der Moment, wenn sich jemand die Hände vors Gesicht halten und verstecken möchte aber daran gehindert wird — und man genau in DIESES Gesicht schaut (auf Basis eines eingewilligten Spiels natürlich). Vielleicht macht Scham eine Situation überhaupt erst erotisch, bevor sie ins Pornographische rutscht (nicht dass Pornographie schlecht wäre. Nur anders).

Wenn ich das weiter aufdrösel, dann merke ich, dass ich meine Scham erstmal verstehen und kennenlernen will, bevor ich sie loswerde. Erzählt sie mir doch etwas über mich und die Welt in der ich lebe. Scham ist ja keine anthropologische Konstante, die einfach da ist. Die ist geworden, Teil meiner Biographie und einzigartig. Zwar gibt es Scham-Klassiker wie Nacktheit und Körperausscheidungen, aber „jeder Jeck ist anders!“ (das ist, glaube ich, das beste was ich im Niederrhein aufwachsend lernen konnte), jede*r  schämt sich doch für anderes und reagiert anders beim Schämen.

Interessanterweise gibt es diese enge Verschwisterung von Sexuellem und Scham. Und zurzeit denke ich eben darüber nach, wie Sexualität aufdeckt und verarbeitet, was in unseren Körperchen an Schwierigem und Gewaltvollen steckt. Als wäre sie ein Mittel der Forensik! Sex kann eine Möglichkeit sein, mit Gefühlen fertig zu werden. Manchmal entspringen die Bedürfnisse Sex zu machen gar nicht primär sexuellen Empfindungen. Es geht dann gar nicht um den Sex, sondern um Prozesse die dahinter liegen, wenn wir uns mit Sex trösten oder aus Langeweile onanieren oder Wut ausagieren. Was völlig in Ordnung ist, wir müssen uns dann nur nicht einreden, dass es unser vordergründiges Projekt und Forderung sei, den Sex zu revoutionieren und schamfrei zu gestalten, wo er erstmal herhält um uns doch so geschickt dabei dienlich zu sein, das zu verarbeiten, was uns schämen macht. Das zu verstecken und uns dafür zu schämen, dass wir uns schämen, müssen wir nicht 

Bei Klaus Theweleit werde ich fündig, was so einige Formulierungen und Analysen angeht, die mir helfen, meiner Frage und Intuition auf der Spur zu bleiben.

„Jede liebende Berührung mit einem anderen Körper ist […] im Prinzip von Sätzen kontaminierbar, die ein Chef gesagt hat, ein Kollege, eine beiläufige Person in böser oder auch guter Absicht, Stunden vorher, Tage vorher, oder auch über Jahre hinweg immer wieder. Weil die sexuelle Berührung die engste ist, die menschliche Körper zu gewissen Zeiten ihrer Entwicklung miteinander haben, ist es nicht möglich, die anderen gesellschaftlichen Berührungen, in denen sie leben, da herauszuhalten. Die Sexualität ist das Feld, in dem alles verhandelt wird, das gesamte übrige Leben — zumindest solange, wie man die Sexualität als das Feld betrachtet, in dem man das eigene Leben entfalten und entwickeln will.“

Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr liegt diese Annahme doch auf der Hand — und doch wird darüber ganz wenig gesprochen! Das geht unter bei den vielen hedonistischen Zugängen — wie sie sich die meisten sex-positiven Festivals und Workshops mit Glitzer auf die Fahnen schreiben — oder den vielen Tipps und Tricks — wie sie in der Cosmopoliton und anderen Lifestyle-Magazinen stehen.

In einem Videointerview mit Ilan Stephani fand ich mal sowas. Bei ihr geht es ja ganz viel um Raummachen für Wut und Angsthabendürfen als Bedingung für Ekstase. Leider finde ich es nicht mehr, aber da rät sie, beim Sex einfach mal das Kopfkissen zu greifen, ans Gesicht zu drücken und reinzubrüllen. Und auf den sexy Schlafzimmerblick zu verzichten und stattdessen Grimassen zu schneiden. Oder mit den Zähnen zu klappern und zu schlottern, um das Sich-Fürchten zuzulassen im Körper. Dadurch mehr Spüren. Nicht immer obercool sein müssen. Und für die Scham würde ich ähnliches vorschlagen. Wenn sie auftaucht, dann sie zulassen und sie vielleicht noch größer machen, sie ganz inkorporieren, statt seine Schamlosigkeit ausstellen und obercool als Libertin auftreten. Das kann man super gut von den Hysterikerinnen von damals lernen. Die sollten funktionieren und wehrten sich, indem sie total ins Irrationale reingehen, sich irremäßig verbiegen und damt ganz Körper sind, noch mehr Körper, als sie verkörpern sollten (denn bekanntermaßen wurde Verstand seit Aristoteles mit Männlichkeit assoziiert und Weiblichkeit auf das Materielle, das nur-Körper-sein reduziert). Warum wehrten sie sich so, warum folgten sie nicht den Imperativen zu funktionieren, wie sie funktioneiren sollten? Wieso könnte es wichtig sein, die eigene Scham zu verteidigen — selbst wenn gute Argumente gegen sie sprechen? Vielleicht weil ein solcher Gruppendruck ganz einfach das Problem wiederholt und weil man mit der Schamverleugnung den Kontakt zu sich selber verliert. Äußere Kräfte pflanzten die Scham in einen ein, äußere Kräfte wollen nun, dass man sich von ihr befreit. Gehorsamkeit hilft nicht beim Verstehen der Strukturen und Vorbedingungen, die die Scham erst ausmachen. Zu versuchen die eigenen Beschaffenheiten und Rahmungen zu verstehen, kreiert ein Gefühl von Schwerkraft und Sinn. Ich bin mir sicher, erst dann lässt sich Scham dekonstruieren und loswerden; vielleicht nicht einmal durch Selbstverbesserung, sondern — politischer — durch das Anfechten der beschämenden Umstände. Dafür muss man aber Kontakt zur Scham herstellen. Und das geht ganz gut über Sex. Wobei Sex auch eingesetzt werden kann, um der Scham aus dem Weg zu gehen, zum Beispiel als Übersprungshandlung…

Sexualität und Lust als Verarbeitungs- und Erkenntnismittel.

Nach meinem letzten Kurs in Emailkorrespondenz mit einer Teilnehmerin, noch ganz frisch aus dem Workshop gepurzelt, fühlen wir dem Erlebten nach und Scham ist ein Thema. Wir erzählen uns, wann die Scham auftaucht. Es ist das Gesehenwerden in der eigenen ganzen neediness und dass man sich dann fühlt, wie ein Säugling: man will, man braucht, man hat Sehnsucht, man ist nackt und ausgeliefert. Ich schreibe:

„Viele der Bilder die bei mir gedanklich vorüberziehen haben so ein Punctum, das mich trifft, weil ich berührt davon werde — eigentlich verpasst es mir mehr noch einen kleinen Stich — , dass gerade in dieser Schlichtheit und Einfachheit (denn viel mehr als uns und unsere nackten Körper hatten wir ja nicht, ich habe ja extra nicht so viel zum Dran-Festhalten reingegeben, damit man sich nicht an seinen Mustern festklammert, indem man jetzt halt massiert oder fesselt oder was man sonst eh schon gut kann… sondern eben wie ein Baby nochmal ganz von vorne anfangen muss, und entdecken muss und erfinderisch werden muss, und dabei ganz viel stolpert und clumsy ist) steckt so viel Radikalität, das kann so viel hervorholen und konfrontiert mit so viel… die Unsicherheiten, die Sehnsüchte, die ich immer wieder in diesen Räumen spüre, das berührt jedesmal irgendwas ganz Tiefes in mir, wie so mein Amphibiengehirn… weil mich das so sehr erinnert an das ganze komische Geworfensein auf diesen oft grandiosen und zu oft auch grausamen Stern. Dass wir so Affektbündel sind, die wollen, die brauchen, die möchten. Und wenn ich das sehe und spüre, das überfordert mich auch. Was nicht schlimm ist. Es beweist nur noch mal mehr, wie heftig diese Räume sind. In ihrer Unverschämtheit. In ihrer Schlichtheit. In ihrem ’no bullshit‘. Das ist sehr viel mehr als nur ‚ein erotischer Abend‘. Das ist es auch! Und kann es für viele sein. Aber das Potential ist noch viel krasser. Und ich merke immer mehr, wie Sexualität eigentlich nicht nur ein Lustmittel, sondern ein Erkenntnismittel ist: weil wir darin so viel erkennen und lernen können über die vielen Geschichten, die in uns stecken. Auch über Generationen hinweg. Und Scham spielt da eine ganz wichtige Rolle. Und deswegen finde ich das so doof wenn Leute immer nur sagen: ‚Die Scham muss weg!‘ weil dann hören wir ihr nicht mehr zu. Die will uns ja was sagen. Über uns. Wie wir geworden sind wer wir sind. Die gehört zu uns. Ich glaube, erst mit dem Umarmen kann sie sich dann wirklich auflösen, wenn sie nicht mehr dienlich ist, nicht, indem wir sie verteufeln und weghaben wollen.“

Und nach so viel Nachdenken über Schweres und Existentielles empfehle ich zum leichten Abschluss die Stand-Up Comedy von Nikki Glaser, die auch die ganze Komik des Sexus aufdröselt und warum es irgendwie auch ein Kompliment sein kann mit einem Grinsen und Augenzwinkern zu sagen „You ought to be ashamed of yourself!“ – vor allem hier ab Minute 4:58:

 
Beate Absalon

Beate Absalon erforscht als Kulturwissenschaftlerin “andere Zustände”, wie Gebären, Trauerarbeit, Hysterie, Schlaf, radical happiness & collective (kill-)joy oder sadomasochistische Praktiken. Nachdem sie zunächst untersuchte, wie Seile in aktive Passivität versetzen können – durch Bondage, aber auch im Marionettenspiel oder politischen Aktivismus –, promoviert sie derzeit über erfinderische Formen der Sexualbildung. Ihr theoretisches Interesse speist sich aus der Praxis, da sie sich und andere gerne in ekstatische Zustände versetzt – am liebsten undogmatisch: Flogging mit Lederpeitsche oder einem Bündel taufrischer Minze, Halten mit Seil oder Umarmung, Spielen mit aggressivem Kuscheln oder liebevoller Erniedrigung, Fließenlassen von Wörtern oder Spucke. Zu tun, was aus der Norm und dem Alltäglichen fällt, kann Angst machen und gleichzeitig ungeheuer lustvoll sein. Workshops und Sessions gestaltet Beata als Erfahrungsräume für Grenzwanderungen, auf denen Grenzen überschritten und gefunden werden, vage und wagemutige Phantasien gemeinsam erkundet, ein eigener Stil entstehen darf.

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